Wenn Sinatra singt – Mittwochsblog
Drei Uhr siebenundzwanzig – wäre es Sommer, würde es langsam hell werden. Durch das Fenster könnte ich einen ersten Lichtschein sehen, der den Tag ankündigt. Leider ist gerade Dezember und es dauert noch mehr als vier Stunden, bis der echte Morgen kommt. Der einzige Lichtschein, den ich sehe, kommt von meinem Laptop und der flackernden Kerze im Glas auf dem kleinen Tisch neben mir. Ich sitze auf dem Sofa und suche.
Drei Uhr nachts – drei Uhr morgens. Diese seltsame Stunde dazwischen. Stunde der Hexen, Dämonen und von Frank Sinatra. „In the wee small hours of the morning“ habe ich auf Dauerschleife laufen. Das sollte ich nicht tun, sollte wenigstens die komplette Playlist abspielen. Tue ich aber nicht. Wenn jemand so etwas komponiert und jemand anderes es auf genau diese Weise singt, weiß ich, dass ich nicht die einzige Schlaflose sein kann. Dann bin ich nicht die Einzige, die einen verschwommenen Tag vor sich hat.
Ich suche nach Geschichten, Informationen, Anderen. Fische im Netz nach Indizien für einen heimatlichen Ort. Manchmal bin ich Brotkrumen gefolgt, es sind ja genug da. Noch eine Geschichte, wie der und der Schicksalsschlag überwunden wurde. Kann man dieses Wort eigentlich verwenden, ohne das es gleich tränendrüsig wird? Verhängnis, Tragödie, Unheil. Es wird nicht besser. Doch was soll ich sonst sagen? Der Große Mist?!
Noch eine Legende, wie aus der Krise die ganz große Chance wurde. Noch eine Fabel über die Dankbarkeit für die Prüfung, die das Leben abgefordert hat. Bestanden! Jetzt fängt die glückliche Zukunft an. Kann ich meine Geschichte auch so erzählen? Die Zukunft nach dem Bruch war so kurz, bevor schon wieder der nächste kam. Schon wieder ein Scherbenhaufen. Zersplitterung.
Ich greife zu meiner Teetasse. Sie ist blau glasiert mit verlaufenden Mustern. Meeresblau – himmelblau – nachtblau – azurblau – alles verschwimmt ineinander. Dazwischen laufen zackige goldene Linien. Sie sieht aus philosophischen Gründen so aus.
Kintsugi – die japanische Kunst aus Scherben etwas wiedererstehen zu lassen. Ich lasse meine Finger über die glänzenden Bruchstellen laufen. Für eine Weile hat diese Bild funktioniert. Es hat mir gut getan, das Gefühl des Kaputtseins in einem greifbaren, nützlichen Gegenstand transformiert zu sehen in etwas Schönes. Die Tasse ist wunderschön – gerade die Brüche machen sie zu einem unverwechselbaren Stück. Gerade das Gold der Klebestellen macht sie wertvoll. Was passiert aber, wenn sie wieder herunterfällt? Wieder in Stücke springt! Wie oft kann ich sie wieder zusammenfügen?
So oft wie es nötig ist! – Ich höre geradezu die Stimme des Kintsugi-Meisters in meinem Kopf. Du wirst die Scherben so oft zusammensetzen, wie es nötig ist.
Wo gibt es eine Anleitung dafür? Ich will das gar nicht. Ich will nicht schon wieder etwas mühevoll zusammensetzen. Ich will etwas Neues, Glänzendes, Ganzes, Heiles haben. Das stelle ich dann in einen Hochsicherheitsschrank, damit nichts zerbrechen kann.
Aber eine Teetasse muss benutzt werden!
Kann dieser Japaner nicht einfach mal den Mund halten?!
Der Bildschirm zeigt die weiße Suchmaske. Der Tee in der Tasse ist schon längst kalt geworden. Nach was kann ich noch suchen? Ich bin müde, so müde. Die Knochen schmerzen, die Muskeln sowieso. Ich will nicht mehr suchen nach noch mehr Geschichten. Ich habe das Herumhetzen satt, um etwas zu finden, das sich wie Zuhause anfühlt oder wie Dazugehören.
Zerstreut klappe ich den Laptop zu, greife zu meinem Notizbuch und dem Füller mit der Goldfeder. Ich setze an und beginne zu schreiben. Seite um Seite füllt sich mit meinen Beobachtungen, Einfällen und Erlebnissen. Mühelos und leicht wandert die Feder über das Papier. Ohne Stocken und Zögern findet ein Satz nach dem anderen den Weg aus meinen Gedanken in die Realität. Ich spüre mein Selbst nicht, wenn ich schreibe, sondern nur, dass ich ganz da bin.
So kann es gelingen, langsam, Satz für Satz erschreibe ich mir mein Zuhause. Der Füller kann nur vorwärts schreiben. Endlose blaue Linie. Ich kann korrigieren, erfinden, neu schreiben, so lange bis die Geschichte erträglich ist, aufrichtig und vielleicht sogar schön.
Meine Playlist mit Sinatra gibt es auf Spotify. Hier klicken. Dann landest du bei „3am melancholia“