Claudia (10) findet mich schwer OK – Antwort 22

Claudia (10) findet mich schwer OK – Antwort 22

Was ist aus meinen Kindheitswünschen fürs Leben geworden? – Ich stelle mir vor, wie ich mich selbst besuche.
Die 10-jährige Claudia schaut mal vorbei. Ich bin gespannt, was sie zu sagen hat.

Eine klassische Aufgabe zur Selbstreflektion ist, sich zu überlegen, was man dem eigenen jüngeren ICH gerne gesagt hätte, damit sie besser durchs Leben kommt.

Für die Antwort Nr. 22 habe ich es mal umgedreht: Was hätte mir mein 10-jähriges Ich wohl zu sagen? Was würde die kleine Claudia von meinem Leben heute halten?

Ich stelle mir also vor, wie sie zu mir zu Besuch kommt. Im nächsten Sommer vielleicht, wenn es im Garten blüht und wir draußen sein können. Sie würde die drei Stockwerke hoch steigen und fände es schon mal toll, dass ich mitten in der Stadt wohne. In dem Alter machen ihr die vielen Treppen auch noch nichts aus.

Ich würde ihr als erstes den Garten zeigen. Ich sehe sie staunen. Sowas hat sie noch nie gesehen: Wie kann man im dritten Stock mitten in der Stadt wohnen und trotzdem einen Garten haben?!
„Boah, das ist ja total toll! Eine Brücke. Darf ich rübergehen? – Die ist aber ganz schön hoch!“ Ich nehme sie an die Hand, Höhen mögen wir nicht so. Gemeinsam gehen wir über die Brücke in den Garten, der sich am Hang und über ein paar Terrassen hinzieht.

Sie hätte übrigens schon im Zimmer, von dem die Brücke abgeht, angehalten und Bauklötze gestaunt. „Das gehört alles dir? Darf ich nachher was basteln? Die Stoffe sind ja schön! – Und so viel buntes Papier! Was machst du damit? Hast du die Bilder gemalt?“ Sie steht ganz still: „Das kann ich später mal alles? Super! – Aber jetzt will ich raus!“ Dann erst hätte sie die Brücke entdeckt.

Ich sehe ihr zu, wie sie sich begeistert in die Hängematte wirft und schaukelt. Sie schaut sich die Blumen an und schnuppert an den Rosen. „Das ist fast so schön wie bei Omi! Du hast nur kein Gartenhäuschen! Warum nicht?“ Gute Frage! Warum eigentlich nicht? Zu viel Arbeit? Zu umständlich?

„Zeigst du mir jetzt unsere Wohnung?“ Und sie flitzt über die Brücke zurück, hat vor lauter Begeisterung ganz vergessen, dass es so hoch ist.

Sie steht im Wohnzimmer und freut sich über die dunkelblauen Wände und das große Tagesbett. Dann entdeckt sie den Kater!
„WIR HABEN EINE KATZE!!!!???“ – „Ja, schon ganz schön lange sogar. Clyde wird dieses Jahr 17.“ Sie pirscht sich heran, streichelt das Tier vorsichtig und genau richtig. Wir mögen Katzen schon immer und können mit ihnen umgehen. Sie wird so lange sie Zuhause wohnt, nie eine haben dürfen. Zu viel Arbeit, sagt unsere Mutter.

Das gluckernde Wasserbett im Schlafzimmer gefällt ihr, wir schwappen eine Weile zusammen darauf herum. Sie darf sich eins von den glitzernden Strassschmuckstücken aus meinem Schmuckkästchen aussuchen.

Dann geht sie weiter und steht mit großen Augen vor den vielen, hohen Bücherregalen im Esszimmer. „Die hast du alle gelesen?“ Ich nicke. „Ja, fast alle!“ Sie entdeckt ihre Bücher: Ferien auf Saltkrokan, Pippi Langstrumpf, Bullerbü. Ihr gefällt, dass die auch noch da sind. „Was arbeitest du eigentlich?“ Ich erkläre ihr, dass ich verschiedene Sachen mache. Eine davon ist, anderen Menschen dabei zu helfen, sich ein schönes Leben zu machen. Das findet sie nett von mir. Und ich erzähle ihr, dass ich sehr viel schreibe und sogar an meinem ersten Roman arbeite. Da bekommt sie noch größere Augen und eien ganz runden Mund. „Echt? Du schreibst ein Buch? Wie Astrid Lindgren?“ Ich nicke. „Es ist allerdings ein Erwachsenenbuch.“ Sie strahlt trotzdem und sieht aus, als ob sie es nicht erwarten kann, groß zu werden.

Dann koche ich uns Kakao. Wir setzen uns mit unseren Tassen und frischen Butterbrötchen zum Kater aufs Tagesbett. „Da hast du uns aber ein prima Leben eingerichtet! Das gefällt mir gut. – Und dass ich später mal Bücher schreiben werde! Toll!“ Sie kuschelt sich an mich und ist stolz auf uns.

Ich streiche ihr über den Kopf und wünsche ihr, sie hätte das mit weniger Umwegen und Schmerzen erreichen können.

Und ich sehe die ungefähr 24-jährige und die 41-jährige Version von mir vorm Sofa stehen und den Kopf schütteln über uns beide. Wir kommen Ihnen naiv und kindisch vor. Und die Alte scheint dabei auch nicht besser als das Kind zu sein. Sie wollen endlich wissen, ob ich endlich wirklich erfolgreich geworden bin. Warum ich offensichtlich nicht mehr beruflich in der Weltgeschichte rumreise. Und auch sonst nicht mehr so viel unterwegs bin. Vor allem: Was ist aus dem tollen Job geworden, den ich mit Ende Dreißig/ Anfang Vierzig hatte? – Denen muss ich noch eine ganze Menge erklären. Puh! Das wird nicht einfach. Aber den Kater und den Garten fänden sie immerhin auch gut. Das mit dem Schreiben wird schwieriger zu beschreiben sein. Mit brotloser Kunst haben sie es nicht so. Diese Liebe muss sich erst noch entwickeln.

 

 

 

 

 

 

 

 



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