Übertreib mal nicht so! – Antwort 58

Übertreib mal nicht so! – Antwort 58

Übertreiben hat ja nicht gerade den allerbesten Ruf : Man soll aus einer Mücke keinen Elefanten machen und auf gar keinen Fall einen Sturm im Wasserglas veranstalten. Und eine „Drama Queen“ setzen wir nicht unbedingt mit würdevoll-royalem Verhalten gleich.

Aber wer setzt dafür eigentlich den Standard?

Was dem einen sin Uhl ist den andern sin Nachtigall; um mal bei Sprichwörtern zu bleiben. (Oder ist das jetzt auch schon wieder übertrieben?)

Was emotional übertrieben ist, ist völlig subjektiv und niemand sollte sich vorwerfen lassen müssen auf diesem Gebiet zu übertreiben.

Trotzdem kann es nicht schaden,
mal bei sich selbst (!) zu schauen,
wie es mit dem Sprachgebrauch ausschaut:
Sind Dinge vielleicht allzu oft „unglaublich fantastisch“ oder „katastrophal“?
Vielleicht sind sie eher „schön“ oder „schwierig“?
Vielleicht bin ich ja auch „hungrig“ und nicht „am Verhungern“.
Das Austauschen der Begriffe ließe
einen realistischeren Blick auf die Wirklichkeit zu.

Emotionen selbst kann man nicht übertreiben. Sie SIND einfach da, so wie sie eben sind. Ich kann natürlich meinen Umgang mit ihnen verändern und in gewissem Maß auch regulieren, wie intensiv ich etwas empfinde. Aber dafür gibt es Grenzen.

Wenn sich etwas anfühlt, als ob mir der Boden unter den Füssen weggezogen wird, ist das in diesem Moment für mich die Wirklichkeit.

Bei Gefühlen ist das Problem, dass ich nie weiß, wie es sich für den anderen „wirklich“ von innen anfühlt. Erst einmal das zu validieren, was von außen sichtbar ist, erscheint mir clever. Dann kann ich nachfragen, ins Gespräch kommen.  Denn machen wir uns nichts vor: Natürlich gibt es manipulative Menschen, die versuchen, durch hemmungsloses Übertreiben unsere Aufmerksamkeit oder Hilfe zu erlangen. Das aber ungeprüft als Standard-Werkseinstellung von allen Menschen zu vermuten, ist unfair.

Manchmal kann aber auch eine simple Fehleinschätzung einer Situation oder ein Missverständnis zu für uns übertrieben erscheinenden Reaktionen führen. Auch dann hilft miteinander reden, statt den anderen vorschnell zu bewerten und vielleicht sogar zu verurteilen. Denn es könnte ja auch sein, dass ich etwas falsch verstanden habe.

(Das ist natürlich total unwahrscheinlich, weil mir sowas schließlich NIE passiert. )

Aber was ist, wenn es sich „wirklich“ so intensiv anfühlt?

Für mich ist es normal, dass ich mich nur dann wirklich gut konzentrieren kann, wenn es still ist oder maximal leise, sehr harmonische Hintergrundmusik läuft. Schlafen geht nur mit sehr weichen Ohrstöpseln. Eine kratzende Strumpfhose° oder ein piksendes Etikett im T-Shirt können mir den Tag versauen. Mit meinem Mann gibt es immer wiederkehrende Diskussionen darüber, ob ein Essen jetzt höllenscharf ist oder nur mild angeschärft. (Das hängt auch noch von meiner Tagesform ab! Er hat’s wirklich nicht leicht!)
Eine Landschaft mit kitschigem Sonnenuntergang oder der erste wirklich schöne Frühlingstag können mich zu Tränen rühren. Und als am Wochenende Hunderte von Kranichen über unser Haus hinwegzogen hatte ich eine Gänsehaut.

Ist das jetzt übertrieben? Für mich nicht. Für mich ist das normal.

Es hat buchstäblich Jahrzehnte gedauert (und das ist nicht übertrieben!) bis mir klar wurde, dass es so ist. Für lange Zeit war es nicht nützlich so zu sein. (‚Leg‘ dir ein dickes Fell zu!‘)

Das habe ich getan. Ich habe mir das Empfindsame und Feinfühlige „abgewöhnt“ und den Rest unterdrückt. Das hat sogar funktioniert, war aber unglaublich anstrengend. (Vor allem die Jahre im Großraumbüro! Heute völlig unvorstellbar in meinem Einzelbüro mit Stahltür!)

Als im Laufe der Jahre das dicke Fell durch schwierige Lebensereignisse immer dünner gescheuert wurde, war ich von der Intensität meiner Emotionen und Empfindungen völlig überfordert. Ich hatte einfach nie gelernt, damit umzugehen. Völlig folgerichtig, wollt ich „es“ nicht haben. Wollte auf gar keinen Fall so ein „Sensibelchen“ sein. Um Himmels Willen, wie sollte ich als Maria Schell-mäßiges „Seelchen“ in einer Welt überleben, die das Taffe und Coole feiert und fordert?

Ich hatte mein eigenes Maß verloren und musste erst lernen, dass meine „übertriebenen“ Empfindungen mein Normal sind. Was es blöderweise nicht gerade leichter macht, kognitive Fehlwahrnehmungen zu erkennen oder mich dabei zu ertappen, wenn ich mal wieder auf meine eigenen Katastrophengeschichten reinfalle. (NIIIIE werde ich Erfolg haben! à Ähm, du hast nur eine Kleinigkeit vergessen!)   

Nicht alles, was sich groß anfühlt, ist auch wirklich groß.
Nicht alles, was sich wie eine Übertreibung anfühlt, ist auch eine.

Aber was was ist, entscheide ich jetzt immer öfter nach meinen eigenen Standards.
Und das ist gut so.

°

PS: Ich finde deshalb beispielsweise eine Bestellung von 10 Strumpfhosen auf einmal NICHT übertrieben. Sie sind perfekt und bunt und die einzigen, die wirklich passen und nicht zwicken und kratzen. enn mir kann eien kratzige Strumpfhose echt den Tag versauen. Nein, das ist nicht übertrieben. Das ist mein Normal.

Frage 58 nach dem „Übertreiben“ war -mal wieder- eine dieser Fragen, deren Antwort mir „explodiert“ ist. Denn was ist mit dem „anfassbaren“ Teil der Welt? Wo ist der Übergang von Übertreibung zu Verschwendung? Und was ist mit positiv besetzen Übertreibungen wie Fülle, Opulenz, Üppigkeit, Reichhaltigkeit? Warum gelten Bescheidenheit, Genügsamkeit und Fleiß als unbedingt positiv? Können sie nicht auch übertriebene Kleinmacherei, Darben oder Arbeitsamkeit sein? Wer entscheidet, welches Maß „gut & richtig“ ist? … … … …

Es gäbe noch so viel zu erkunden in diesem Zusammenhang. Aber das sind Gedanken und Geschichten für ein andermal…*

*Am Ende der 60-Fragen-Challenge werde ich mir alle 60 Antworten noch einmal ansehen und die explodierten als Start für neue Artikel oder Artikelserien verwenden. Das ist jedenfalls der momentane Plan. 😉



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