Warum ich 2022 mit geplanter Ziellosigkeit experimentiere

Warum ich 2022 mit geplanter Ziellosigkeit experimentiere

2017 war mein erstes „zielloses“ Jahr. Und ich habe es gehasst. In diesem Blogartikel erfährst du, warum ich mir 2022 trotzdem keine Ziele setze und welches Experiment ich stattdessen durchführe.

2017 – Das Jahr ohne Ziele.

2017 hatte ich viel vor: Ich hatte im September davor damit angefangen, mein erstes Coaching-Buch zu schreiben. Ich hatte einen ersten größeren Vortrag gehalten (200 Zuhörer!, im Rathaussaal meiner Stadt) und stand in den Startlöchern, um mein Coaching-Business richtig voranzutreiben. Was man halt so vorhat in solchen Fällen.

Doch 2017 war alles mögliche, aber nicht das Jahr, in dem ich meine Pläne verwirklichen würde. Es war das Jahr, in dem ich meinem Vater dabei zugesehen habe, wie er durch Krebs langsam immer weniger wurde. Ich bin Apothekerin, ich hatte Trainingskurse zum Thema gegeben. Meine Mutter war zwanzig Jahre zuvor auch schon an Krebs gestorben. Ich wusste genau, was los war, als er die Diagnose bekam und kurz danach anfing, immer mehr Gewicht zu verlieren. Die Prognose für seinen sehr seltenen Krebs: 9 Monate nach Diagnose sind die allermeisten Patienten verstorben.

2017 war ein hartes Jahr. Im August ist mein Vater gestorben: 10 Monate nach der Diagnose.

 

Wenn ich jetzt zurückschaue, war ein Teil der Erfahrung ziemlich erstaunlich: Ich musste in diesem Jahr niemals langwierig entscheiden, was ich tun würde.
Die Situation selbst machte unerbittlich klar, was „dran“ war. Es gab keine Ausreden. Ich konnte, weil ich musste. Und das war mehr, als ich jemals gedacht hätte.
Und das machte mich stolz und zufrieden!

Tag für Tag nur eine einzige Frage wichtig:

WAS MUSS JETZT GETAN WERDEN?

„Jetzt“ hieß: heute oder – vielleicht noch – diese Woche! Die Situation war unberechenbar. Alles konnte sich jederzeit ändern. Es war schlicht unmöglich, langfristig zu planen. Wenn ich noch etwas von meinem Vater wollte, musste es jetzt sein. Wenn er zufällig einen guten Tag hatte.

Es musste daneben einfach unglaublich viel erledigt werden. Es gab Rechtliches zu besprechen. Die buchstäblich letzten Dinge regeln. Zeit miteinander verbringen. Etwas für mich tun, um nicht völlig durchzudrehen. Die Liste war endlos. Ich werde niemals mehr unterschätzen, wieviel Zeit ein unheilbarer Krebs von allen Beteiligten einfordert. Da bleibt nicht so viel übrig, wie man sich wünscht, um zu reflektieren oder mit den üblichen Strategien mit der Situation fertig zu werden.

Während dieser Zeit war ich oft nicht nur unglaublich traurig, sondern auch sehr, sehr wütend: Unsere Familie hatte wirklich schon genug erlebt gehabt, das musste doch nun wirklich nicht sein. Ich war wütend, dass ich -schon wieder!- meine Ziele wegen widriger äußerer Umstände nicht so verfolgen konnte, wie ich mir das vorstellte. Ein Coachingbuch zu schreiben erschien vor diesem Hintergrund unglaublich banal und unnötig. Ich hatte keine Wahl, weil ich diese Zeit so gestalten wollte, damit sie uns in möglichst guter Erinnerung bleiben würde. Es gab kein schönes Ziel zu erreichen. Keine optimistischen Pläne zu verwirklichen. Dabei machte ich das damals unglaublich gerne: Mir ausmalen, wie ich meine Coaching-und Speaker-Karriere aufbauen würde, Vorträge halten und überhaupt auf eine tolle Zukunft hinarbeiten würde. Das hatte alles richtig Spaß gemacht und mich beflügelt.

Plötzlich wollte ich nicht mehr für die Zukunft planen.
Denn wenn die Zukunft da wäre, wäre mein Vater kein Teil mehr davon.

 

Was soll daran jetzt GUT gewesen sein?

Mit dem Abstand einiger Jahre kann ich erkennen, was genau das Ganze so besonders gemacht hat.

Alles, was ich getan habe, hatte einen unmittelbaren Effekt oder „Impact“.

Ich habe etwas getan, weil es getan werden musste.
Ich war gezwungen, ganz präsent im JETZT zu sein.

Kein Zaudern oder Grübeln – Tun.

Wer will sich schon mit Sterbebegleitung oder Palliativpflege beschäftigen?
Oder eine Urne aussuchen und die Trauerrednerin engagieren?

Keine Zeitverschwendung mit langwierigen Entscheidungsprozessen

Es gab niemals die Frage ob ich etwas tue, sondern nur wann und wie.
Es war eh‘ klar, was anstand.

Mein Perfektionismus war „abgeschaltet“

Das war vielleicht die eine Sache, die für die meiste Erleichterung gesorgt hat. Es ging nicht mehr um die Frage: Was ist die perfekte Lösung? sondern um: Was ist gerade möglich?
Das das klappte, hing natürlich damit zusammen, dass mir klar war, dass wir alle in einer Extremsituation stecken. Trotzdem war erstaunlich, dass die Welt nicht zusammenbrach, bloss weil ich seit drei Wochen nicht mehr gebügelt hatte.

Außerdem war mein Improvisationstalent gefordert und ich habe festgestellt, dass ich davon eine Menge habe. Und dass in vielen Situationen wesentlich weniger Aufwand nötig war, als ich unter „Normalbedingungen“ erwartet hätte.

Gut genug war gut genug.

 

Das heisst nicht, dass sich meine innere Kritikerin nicht doch manchmal mit vehementen Beschwerden zu Wort gemeldet hat. Aber in Anbetracht der Situation konnte ich sie ziemlich schnell in die Grenzen weisen.

Gute Selbstfürsorge war zwingend

Ich hatte schnell verstanden, dass ich nur dann für ihn da sein konnte, wenn ich auch auf mich selbst und mein Wohlergehen achtete.
Deshalb gibt es aus diesem Jahr nicht nur gruselige Erinnerungen, sondern auch schöne:
An ein paar Tage Urlaub in Amsterdam, Spaziergänge und Ausflüge, Treffen mit Freunden, ohne die Situation zu besprechen.
Verdrängung kann ein echter Rettungsanker sein!

Diese Aspekte haben mir alle gut getan. Bei allem Schweren und Gräßlichen war oft eine Komponente von Zufriedenheit, Wirksamkeit und Stolz dabei.
Und deshalb habe ich mich schon ziemlich bald gefragt, wie ich das ohne solch eine fürchterliche Aussnahmesituation auch zumindest teilweise bekommen könnte.

(Die Gesamterfahrung hätte ich uns allen natürlich trotzdem gerne erspart.
Ich würde dieses Wissen sofort wieder eintauschen! Der Preis dafür war zu hoch.)

Wenn ich über diese Punkte schaue, waren das im Grunde die Dinge, die es mir auch erleichtert haben, einigermaßen gut durch das vergangenen Jahr zu kommen. Diese Erfahrungen haben mich dann nocheinmal mehr dazu gebracht, mir darüber Gedanken zu machen, wie ich wirklich leben will und was „Ziele setzen“ dabei für mich bedeutet:

Was passiert, wenn ich mir Ziele setze? Was sind die Risiken und Nebenwirkungen?

(Dazu habe ich auch schon einen Absatz in meinem Jahresrückblog 2021 geschrieben.)

„Ziele setzen“ zieht mich aus der Gegenwart

Das ist sicher nicht für jeden so, aber mir passiert es sehr schnell, dass ich mich in meinen Zukunftsplänen und „Visionen“ verliere.

Und das widerum führt dazu, dass ich viel zu sehr in einer glänzenden Zukunft lebe und das verpasse, was hier und jetzt gerade passiert.
Ich übersehe, was gerade „dran“ ist. Das was gerade leicht gehen könnte, aber leider nicht zu meiner Zukunft und dem geplanten Weg dorthin passt.

Gesetzte Ziele führen bei mir oft dazu, dass ich anfange, ein Scheuklappen-Leben zu führen. Ich kann mich unglaublich gut fokussieren.
Und kenne dann aber auch kaum ein anderes Thema mehr als die Erreichung dieses Zieles. Da wird die Stärke dann plötzlich zu einer Schwäche und die „to-do-Liste“ zu einem manchmal unbarmherzigen Antreiber. Aus „Ich will.“ wird ein „Du musst!“ und der Stresspegel erhöht sich sehr stark.

 

„Wenn ich erst [xy] erreiche, dann bin ich glücklich!“

Die Ziele, die ich mir in der Vergangenheit gesetzt habe, waren oft davon bestimmt, dass mir etwas in meiner Gegenwart so gar nicht gefallen hat. Meine Reaktion darauf: Ich habe mir ein Ziel gesetzt und habe das gemacht, was man dann eben so macht: Das Ziel definiert – SMART natürlich! Meilensteine festgelegt und so weiter und so fort. Die Motivation dranzubleiben war: Wenn du erst das Ziel erreicht hast, dann wird es besser. Bleib dran!Mach weiter! Beiß die Zähne zusammen! Go for it! Du bist doch kein Weichei!? …

Wirklich geklappt hat das meistens nicht.
Und dann kamen die üblichen „Schuldzuweisungen“: Innerer Schweinehund, Faulheit als Persönlichkeitsmerkmal und der Favorit – Mangel an Disziplin und Willenskraft. – Ich war eine Looserin! Das hatte ich ja gerade wieder eindrucksvoll bewiesen.

Was mich nicht davon abgehalten hat, beim nächsten Mal wieder dieselbe Strategie anzuwenden.

Das ist das eigentlich Idiotische: Dass ich nie auf die Idee kam, dass die Methode für mich Schrott war und für das, was ich vorhatte, nichts taugte.

Und erst in einem Gespräch, das ich kürzlich führte, sagte meine Gesprächspartnerin etwas, dass mir einen Kronleuchter aufgehen liess: Das sind Methoden des Projektmanagement! Ich hatte also sehr lange allen Ernstes versucht, mit Methoden aus der Wirtschaft mein Leben schön zu machen und meine Persönlichkeit zu entwickeln.  Was es nicht besser macht: Ich wusste schon ziemlich lange, dass extrinsische Motivation (= die Möhre vor der Nase = die glänzende Zukunft nach Zielerreichung) nicht langfristig funktioniert. *

NUN JA! 🙈

 In diesem Zusammenhang hier übrigens ein aktueller Artikel zum Thema:
Warum das mit dem Sport nicht klappt. – Genuss ist wichtiger als Disziplin!

*Wer es genauer wissen will, hier gibt es Infos zu intrinsischer Motivation.
Auf Englisch: Self-determination theory. Blogartikel folgt…

 

All das schreit geradezu nach einem „Neustart“ meiner Herangehensweise. Und das ist, was ich in nächster Zeit vorhabe:

Was tue ich stattdessen?

Ich fange an andere Fragen zu stellen:

  • Was ist gerade schon gut in meinem Leben und wie kann ich davon mehr bekommen?
    (Das ist orientiert an dem, was da ist und fokussiert nicht den Mangel von etwas.
    Das ist wie bei diesen Stempelheftchen, in denen schon mal zwei Stempel drin sind.)
  • Was ist mir JETZT gerade wichtig? (In meinem Leben, meinem Business.)
    Was braucht JETZT meine Aufmerksamkeit und Zuwendung? (Damit es wachsen und gedeihen kann.)

Wahrscheinlich wird ein Teil von mir leicht panisch werden. Das ist der Teil, der große, große Projekte braucht und die Aussicht auf eine strahlende Zukunft.
Weil ihr das ein Gefühl von so etwas Ähnlichem wie Kontrolle und damit Sicherheit vermittelt. Sie schaut auch gerne in Kristallkugeln.
Die meldet sich immer, wenn ich mit solchen Ideen ankomme.
Ich werde mich dann mit ihr und Papier und Stift hinsetzen. Sie darf mir dann 10 Minuten in die Feder diktieren, was ihr gerade durch den Kopf geht.
Das hilft meistens schon mal. Die Panik ebbt dann wieder ab und ich kann in Ruhe weiter machen.

So sieht also das Experiment aus:

  • Mich bewusst dafür entscheiden, nicht sehr weit nach vorne zu schauen.
  • Die Fragen oben immer wieder neu beantworten.
  • Entscheiden, was der jeweils nächste Schritt in meinen gerade bestehenden Projekten ist.
  • Aktivitäten und Workshops maximal für das erste Quartal 2022 planen.

Ich bin gespannt, was passiert!

Im nächsten Teil des Artikels geht es um darum, dass wir uns manchmal auf unsere „Ziele“ schmeißen, damit wir uns nicht mit Dingen beschäftigen müssen, die uns noch unangenehmer sind. Ich nenne diese Taktik: „Ausweichziele setzen, damit ich um „das Andere“ herum komme“. Hier geht es ab 16.01.2022 zum Artikel.

Wenn du Lust bekommen hast, bei diesem „Experiment“ mitzumachen: Ich biete auf dieser Basis auch Workshops an.
Hier findest du mehr Informationen dazu.

 

 



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